Das Weltrechtsprinzip im Völkerrecht

Es war ein wenig spektakulärer Fall den der Staatsschutzsenat am BGH in Karlsruhe entschieden hat, der aber dennoch Signalwirkung hat. Angeklagt war ein Oberleutnant der afghanischen Armee, der nach Feststellung des Oberlandesgerichts München gemeinsam während der eigenen Dienstausbübung auf einem Stützpunkt der afghanischen Armee mit einem dem Stellvertretenden bei der Befragung dreier Gefangener aufgrund eines gemeinsamen Entschlusses Drohungen sowie Gewalt an. Ferner veranlasste der Angeklagte, dass der Leichnam eines Talibankommandeurs an einem Schutzwall aufgehängt, wie eine Trophäe präsentiert und herabgewürdigt wurde.

Das Oberlandesgericht (OLG) München hatte ihn wegen gefährlicher Körperverletzung und (versuchter) Nötigung zu zwei Jahren Freiheitsstrafe verurteilt, die Vollstreckung aber zur Bewährung ausgesetzt. Der Angeklagte und zu dessen Lasten der Generalbundesanwalt haben sich nun jeweils mit ihren auf die Sachrüge gestützten Revisionen gegen das Urteil gewandt. Der Generalbundesanwalt erstrebte in Bezug auf die Behandlung der Gefangenen eine Verurteilung auch wegen des Kriegsverbrechens der Folter gem. § 8 Abs. 1 Nr. 3 VStGB und im Übrigen die Aufhebung des gesamten Strafausspruchs. Die Verteidigung wollte das Urteil aus München überprüft wissen, weil es die Schuld als zu gering für den Vorwurf eines Kriegsverbrechens ansah.[1]

Einerseits hatte der 3. Strafsenat des BGH insbesondere zu klären, ob die anlässlich der Befragung der Gefangenen vorgenommenen Handlungen ein Kriegsverbrechen der Folter darstellen.

Andererseits war hierbei grundsätzlich von Belang, ob der Angeklagte aufgrund seiner Stellung als Angehöriger der afghanischen Armee vor deutschen Strafgerichten Immunität genossen hat mit der Folge, dass seine Verurteilung ausgeschlossen wäre.

Insofern war für die Verfolgung von Taten nach dem Völkerstrafgesetzbuch über den Einzelfall hinaus bedeutsam, inwieweit nach dem Völkergewohnheitsrecht der strafrechtlichen Ahndung von Handlungen, die ein Angeklagter in Ausübung ausländischer hoheitlicher Tätigkeit vornahm, durch ein inländisches Gericht der Grundsatz der funktionellen Immunität entgegensteht.

Zunächst wollen wir aber nochmals kurz rekapitulieren, was die funktionelle Immunität ist. Dabei handelt es sich um eine Sonderform der aus der Staatenimmunität abgeleiteten Immunität. Dies unterstellt zunächst, dass ein Staat als juristische Person Immunität genießt. So konnte die Bundesrepublik Deutschland in Italien nicht für Kriegsverbrechen aus dem 2. Weltkrieg zu Schadensersatz verurteilt werden.[2]

Davon leitet sich durch die Repräsentation durch ein Staatsoberhaupt[3] die Immunität dessen für Handlungen, die während seiner Amtsausübung begangen wurden, ab. Er kann also grundsätzlich nicht der Gerichtsbarkeit eines anderen Staates unterstellt werden, andernfalls könnte die Staatenimmunität durch den Rückgriff auf die für den Staat handelnde Person umgangen werden. Diese Immunität für Staatsoberhäupter ist aber im Gegensatz zur diplomatischen Immunität nicht Gesetzlich verbrief sondern Völkergewohnheitsrecht. Nun muss zur Entwicklung der funktionellen Immunität zwischen amtierenden und ehemaligen Staatsoberhäuptern und zwischen der absoluten immunität ratione personae und funktionalen ratione materiae unterschieden werden.

Während ein Staatsoberhaupt über absolute Immunität verfügt,[4] gilt für ehemalige Amtsträger funktionale Immunität. Sie genießen Immunität im Bezug auf hoheitliche Amtshandlungen die in einer Funktion vorgenommen haben, und bleiben damit auch nach ende eines Amtes vor bestimmten Maßnahmen fremder Staaten geschützt.

Der 3. Strafsenat hatte also zu beurteilen, ob dem Soldaten der afghanischen Streitkräfte aufgrund seiner Stellung als Amtsträger funktionelle Immunität zustand.

Diese zweite Fragestellung hat überrascht.  Sowohl der Generalbundesanwalt als auch die Verteidigung waren von der Anberaumung eines weiteren Termins durch den 3. Strafsenat überrascht. Dabei dürfte es weniger um den angesprochenen Einzelfall des afghanischen Militärangehörigen gehen, sondern viel eher um vergleichbare fälle welche von der funktionellen Immunität hätten betroffen sein können wie z.B. das Verfahren vor dem Oberlandesgericht Koblenz gegen Angehörige des syrischen Geheimdienstes.

Das Verfahren in Koblenz ist wie einige andere Verfahren auch das Ergebnis der Flucht vor dem Konflikt in der Region. Viele Opfer und auch zahlreiche Täter aus der Konfliktregion befinden sich auf deutschem Boden oder sind deutsche Staatsbürger. In diesen Fallkonstellationen besteht für internationale Verbrechen gem. § 1 VStGB und § 153f StPO eine Verfolgungspflicht auch wenn die verfolgten Verbrechen keinen unmittelbaren Bezug zur Bundesrepublik habe. In diesem Fall greift das Weltrechtspflegeprinzip und die zuständigen Organe – wie der Generalbundesanwalt – sammeln in Strukturermittlungsverfahren Beweise und erheben gegen identifizierte Täter anklagen.

Sowohl der BGH als auch die Oberlandesgerichte haben die Anwendung des Völkerstrafrechts weiterentwickelt und entscheidend geprägt.

So hat das Ober­lan­des­ge­richt Stutt­gart in einem Staats­schutz­ver­fah­ren einen 24-Jäh­ri­gen wegen eines Kriegs­ver­bre­chens gegen Per­so­nen gemäß § 8 Abs. 1 Nr. 9 Völ­ker­straf­ge­setz­buch in sechs tat­ein­heit­li­chen Fäl­len zu einer Be­wäh­rungs­stra­fe von einem Jahr und sechs Mo­na­ten ver­ur­teilt. Der po­siert (Az.: 6 -32 OJs 9/17). Nach den Feststellungen des Stuttgarter Senats war der Angeklagte, der im Oktober 2015 als Flüchtling nach Deutschland kam, vor seiner Flucht Mannschaftssoldat in der irakischen Armee. Nachdem die Einheit des Angeklagten im Juli 2015 von Abu Ghuraib in das 250 Kilometer nordwestlich von Bagdad gelegene Baidschi verlegt wurde, kam es dort zu einem Angriff durch Kämpfer der Terrororganisation „Islamischer Staat“, der von den Armeekräften zurückgeschlagen werden konnte. Nach dem Ende der Kampfhandlungen wurden die Köpfe von mindestens sechs getöteten IS-Kämpfern von ihrem jeweiligen Körperrumpf abgetrennt und zum Zwecke der Erstellung sogenannter Posierfotos in einer Reihe auf der Erde abgelegt. Der Angeklagte kam hinzu und ließ sich breit lächelnd und mit einem mit zwei Fingern der rechten Hand geformten „Victory“-Zeichen vor den Köpfen fotografieren, wodurch er die Verstorbenen, deren Gesichtszüge großteils noch erkennbar waren, in schwerwiegender Weise verhöhnte und erniedrigte und in ihrer auch über den Tod hinaus fortwirkenden Würde und Ehre verletzte.

Dabei wurde das postmortale Persönlichkeitsrecht unter den ausgedehnten Schutz des humanitären Völkerrechts gem. § 8 Abs. 1 Nr. 8 VStGB gestellt. Diese Entscheidung war im vorliegenden Fall ebenfalls relevant.

Die ambitionierte Rolle deutscher Gerichte wurde auch von Prof. Dr. Beth van Schaack, einer Völkerstrafrechtlerin aus Standford in Ihrem Buch „Justice for Syria“ lobend erwähnt.

Hätte der BGH nun funktionelle Immunität für den Angeklagten angenommen hätte dies weitreichende Folgen gehabt. Einerseits hätte die Bundesanwaltschaft die eigenen Verfolgungsbemühungen erheblich reduzieren können und die Gerichte in anderen Staaten hätten Sich derselben Frage zur funktionellen Immunität stellen müssen. Die Verfolgung von internationalen Verbrechen wäre damit erheblich erschwert worden. Die Verfolgung und Verurteilung – auch von internationalen – verbrechen obliegt zunächst den nationalen Strafverfolgungsbehörden und Gerichten. Dem Internationale Strafgerichtshof wird in solchen fällen nur eine komplementärrolle zugewiesen.

Aufgrund der Tragweite wurde dem Ausgang des Verfahrens viel Aufmerksamkeit – auch über die üblichen Kreise hinaus geschenkt.

In der mündlichen Verhandlung war eine Äußerung der deutschen Vertreterin im 6. Komitee der UN-Generalversammlung – dem Rechtsauschuss – in der Debatte um die Immunitäten Kontrovers diskutiert worden. Diese Äußerungen sind für die Begründung von Völkergewohnheitsrecht deswegen interessant, da neben der Staatenpraxis auch eine Rechtsüberzeugung unter den Staaten vorhanden sein muss, um das Völkergewohnheitsrecht zu Begründen. In diesem Fall wurden die Äußerungen der Vertreterin jedoch nicht isoliert betrachtet sondern wurden vom Senat ins Verhältnis zu den Äußerungen von Bundesaußenministerium und Bundespräsident gesetzt.

In seiner 45 minütigen Begründung legte der Vorsitzende Richter Dr. Jürgen Schäfer dann ein erfrischend deutliches bekenntnis zum Völkerstrafrecht und den Grundlagen internationaler Strafgerechtigkeit ab.

Dazu hat der Senat in penibel eine Liste relevanter Fälle zusammengestellt die bei den Kriegsverbrecher-Prozessen in Nürnberg beginnt, sich über den Eichmann-Prozess und zahlreichen Fällen aus den europäischen Nachbarstaaten spannt um zuletzt die eigene Rechtsprechung zu den Fällen aus Jugoslawien und Ruanda zu beleuchten.

Es lässt sich eine allgemeine Regel bestehender funktioneller Immunität für Völkerrechtsverbrechen nicht aus dem Völkergewohnheitsrecht ableiten, woraus der Senat seine Beweislastverteilung herleitet: Völkerrechtliche Kernverbrechen sind nicht teil der staatlichen Aufgaben, und können deswegen auch nicht unter die funktionelle Immunität fallen.

Es lässt sich eine allgemeine Regel bestehender funktioneller Immunität für Völkerrechtsverbrechen nicht aus dem Völkergewohnheitsrecht ableiten, woraus der Senat seine Beweislastverteilung herleitet: Völkerrechtliche Kernverbrechen sind nicht teil der staatlichen Aufgaben, und können deswegen auch nicht unter die funktionelle Immunität fallen.

Dieser – aus kriminalpolitischer Ansicht vorzuziehenden – Ansicht kann man sich anschließen. Dagegen spräche jedoch, die die Tatsache, dass ein Großteil der einschlägigen völkerrechtlichen Verbrechen – gerade die besonders schweren – nur mit Hilfe des Staates, seines Apparats und seiner Mechanismen begangen werden können oder Sie setzen die Position des Amtsträgers hierfür geradezu voraus.[5]

Unter diesem Aspekt kann das Leitvotum von Lord Browne-Wilkinson in der Pinochet-Entscheidung des britischen House of Lords zitiert werden „Can it be said that the commission of a crime which is an international crime against hu-manity andius cogens is an act done in an official capacity on behalf of the state? I believe there to be strong ground for saying that the implementation of torture as defined by the Torture Convention cannot be a state function”[6]

Diese Darstellung von Lord Browne-Wilkinson und das Urteil des BGH reiht sich ein, in zahlreiche nationale und internationale gerichtliche Entscheidungen und Bestimmungen in internationalen Konventionen. Weswegen sich eine dahingehende ausnahme im völkergewohnheitsrecht etabliert hat, wonach völkerrechtliche Verbrechen – insbesonder gegen die ius cogens Normen – nicht, oder mindestens nicht mehr von der funktionalen Immunität geschützt sind. Dies ist auch im lichte der anderslautenden IGH-Entscheidung im Arrest-Warrent-Case aus dem Jahr 2002 heute so zu beurteilen. Dafür spricht neben den gerichtlichen Entscheidungen vor allem auf internationaler Ebene die Weiterentwicklung der „Globalisierung der Gerechtigkeit“. Beredtes Zeugnis legt dazu die einstimmige UN-Sicherheitsresolution 1970 vom 26. Februar 2011 ab, wonach der Sicherheitsrat die Situation in Libyen dem Internationalen Strafgerichtshof unterbreitet hatte.

Der Vorsitzende Dr. Schäfer fasste die Bedeutung der Entscheidung zum Ende seiner Urteilsbegründung nochmals prägnant zusammen: „Deutschland war, ist und bleibt bis auf weiteres kein sicherer Zufluchtsort für Personen, die Straftaten gegen die Völkergemeinschaft begangen haben.“

[1] Urteil des BGH vom 26. Januar 2021 – 3 StR 564/19

[2] Urteil des IGH vom 3. Februar 2012 – Jurisdictional Immunities of the State (Germany v. Italy)

[3] Vgl. Art. 7 II Lit. (a) WVK

[4] So  bspw.  im  Verfahren  gegen Gaddafi, Mugabe und Aristide, sowie der Entscheidung des niederländischen Hoge Raad im Verfahren gegen Buterse, Vgl. hierzu und mit Nachweisen zu den jeweiligen Verfahren: Menzel/Pierlings/Hoffmann(Hrsg.), Völkerrechtsprechung, S. 443 f.

[5] Beispiel: Allein die Folter setzt per definitionem gem. Art.1 UN-Folterkonvention das Handeln in amtlicher Eigen-schaft voraus.

[6] Abgedruckt bei Herdegen, Völkerrecht, 9.Aufl. (2010), § 37 Rdnr.10.

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